Writing

Hier werde ich nach und nach meine journalitischen und literarischen Versuche einstellen.

 

 

 

Brassed Buttons, Silver Shoes – Eine Weihnachtsgeschichte

Erschienen im Sammelband ‚Dieses Mal bei uns‘ Suhrkamp 2014

Ob wir wohl schon auf dem Äquator sind, dachte ich, als die Kugel zitternd in der Kammer mit der schwarzen 15 liegen blieb. Ein letzter Schluck abgestandener Gin Tonic, dann die vier mir noch verbleibenden Chips wieder Richtung Spielfeld. Letzte Chance. Egal. Plötzlich packte mich jemand am Arm, riss mich herum. Das breite Lächeln eines etwa 70 jährigen Mannes unter einem weißen Bart:
„Verspiel ruhig auch noch den Rest. Aber lass dir gesagt sein, verlieren ist nur halb so schlimm wie beim verlieren zuzusehen. Bei zweitem habe ich Erfahrung. Bei ersterem übrigens auch.“
Ob wir wohl schon auf dem Äquator sind, dachte ich wieder. Und antwortete nichts. Blieb einfach stehen und schaute den Mann an. Oder durch ihn hindurch.
„Es gibt zwei Möglichkeiten: erstens, du verlierst auch noch den Rest deines armseligen Kapitals oder, zweitens, wir ändern seinen Aggregatzustand. Verflüssigen das Plastik. Hätten wir beide was davon.“
Keine fünf Minuten später hatte ich tatsächlich die letzten vier Chips in 40 Dollar umgewandelt, saß mit einer Flasche Gin, einer Flasche Tonic und dem weißhaarigen Mann drei Stockwerke höher, neben dem Pool und rauchte in die karibische Nacht. Drückte die Zigarette in den überfüllten Aschenbecher. Die dritte Woche auf diesem Schiff. Ein Tag vor Heilig Abend. Eigentlich war es schon Heilig Abend. Seit zwei Stunden. Also der Morgen davor, beziehungsweise die Nacht. Drei Wochen seit ich mit dem indischen Fahrer des Billigtaxis kreuz und quer am Brooklyn Pier herumgefahren war. Auf der Suche nach einem Schiff. Keine leichte Kommunikation. Nein, kein Militärschiff. Eins für Kreuzfahrten. Ein sehr großes. Ja, Urlaub.
Eine Stunde und 100 Dollar später, die der Fahrer zwar entschuldigend aber doch bestimmt entgegen genommen hatte, während er auf das Taxameter zeigte und mir dabei auch noch ein schlechtes Gewissen hinterließ, war ich schliesslich als fast letzter Gast an Bord gegangen. Hatte die Flasche Complimentary Champagner in meiner Aussenkabine mit Balkon getrunken, innerhalb weniger Minuten, und mich auf höhe Freiheitsstatue schlafen gelegt. Und jetzt befand ich mich vielleicht schon auf dem Äquator. Nach drei wenig spektakulären Wochen. Allabendliche alleinige Besäufnisse in der Bar gleich neben der Brücke. In Hörweite von John, einem sehr dünnen, sehr tätowierten, blinden Mann Mitte 50 und seiner sehr dicken Frau. Immer versunken in die gleichen roten Samtsessel. John, der einzige der sprach. Vom Falkland Krieg, von Manchester, vom Wetter. Ausserdem waren da noch ein paar Inseln, von denen ich keine betreten, lediglich vom Balkon meiner Kabine das jeweilige Anlegemanöver beobachtet hatte. Slalomläufe um sehr langsam gehende Rentner mit Bergen von Torten auf ihren kleinen Tellern. Viel Schlaf. Und eine ziemlich verstörende Nacht mit dem weiblichen Teil eines Pärchens mit dem ich den Tisch im Speisesaal geteilt hatte. Als wir vor Curaçao ankerten. Nach dem übermäßigen Genuss des blauen Gesöffs jener Insel ihrerseits. Und übermäßiger Gleichgültigkeit alles und jedem gegenüber meinerseits. Die Geschichte hatte dazu geführt, dass ich ab jenem Zeitpunkt nur noch im Buffet Restaurant essen konnte. Langusten mit ihr und ihrem Ehemann zu schälen war kaum mehr vorstellbar. Auch wenn die beiden mir versichert hatten, sie wären da nicht so. Trotzdem.
Nun saß ich also um zwei Uhr, am Morgen des Heiligen Abends mit einem weißhaarigen Mann am Pool und trank Gin Tonic, starrte in die Dunkelheit und hatte Angst zu sprechen.
„Erzähl mal was los ist. Sieht man ja bis Kuba, dass bei dir einiges schief liegt.“ begann der weißhaarige plötzlich.
Möglicherweise lag es am vornehmlichen Schweigen der letzten drei Wochen, unterbrochen nur durch die allabendliche Bestellung am Buffetgrill, der Episode mit der Tischnachbarin und dem gelegentlichen schüchternen Cheers in Richtung des dünnen, blinden John in der Bar. Oder daran das ich den gerade beginnenden Monolog eigentlich schon seit Monaten auswendig gelernt hatte. In jedem Fall begann ich jetzt einfach zu erzählen. Und zwar von vorn. Von ziemlich weit vorn. Von meinen Eltern. Wo sie herkamen. Wie sie nach dem Putsch gegen Allende mit mir in die DDR fliehen mussten. Wir nach der Wende in die grauenhafte Kleinstadt in Westdeutschland umgezogen waren. Wie ich mich mehr und mehr geweigert hatte spanisch zu sprechen. Es bis zur Mittelstufe gänzlich verlernt hatte. Nichts, kein Wort mehr erinnerte. Mich deshalb auch immer weniger mit meiner Mutter verständigen konnte, die konträr zum mir das wenige Deutsch das sie in Ostberlin gelernt hatte, wieder verlernte. Aus Trotz der Welt und ihrem Sohn gegenüber. Oder einfach nur des Alters wegen. Wie ich mit Mühe und Not das Abitur bestanden hatte und danach noch weniger mit mir anzufangen wusste. Meinen Vater, immerhin Doktor der Medizin, was er bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit betonte, damit immer mehr zur Verzweiflung brachte. Die Eltern dann nach Spanien und ich nach New York City ging. In das imperialistische Herz des Feindes. Beschloss Musiker zu werden. Mehr halbherzig als überlegt. Wie ich illegal mal hier mal dort gewohnt, mal hier mal dort gekellnert, mal hier mal dort in schlechten Bands gespielt hatte. Und dann schließlich Julia begegnete. Dieser eine kurze Frühling als auf einmal nicht nur der Hudson glitzerte. Wie Julia schwanger wurde. Nicht von mir. Und meine Gleichgültigkeit dadurch noch unvorstellbarere Ausmaße annahm. Dann schließlich die 3000 Euro meiner Eltern. Pünktlich zum 30. Geburtstag. Mein Vater war schon immer ein Zahlenmystiker gewesen. Der dezente Hinweis, dass dies das letzte Geld sei. Das ich ab jetzt mein Leben selbst in die Hand nehmen müsse. Als ob ich das nicht schon längst getan hätte. Aber dann war ich dem Rat meines Vaters gefolgt und hatte mir eines Morgens nach einer durchwachten Nacht schließlich ein Ticket für dieses Schiff gekauft. Und war nun hier. Vielleicht schon auf dem Äquator. Mit einem seltsamen alten Mann. Am Pool. Und hatte wohl zum ersten Mal jemandem meine ganze Geschichte erzählt. Jemandem wildfremdem.

„Nicht schlecht“ seufzte der. „Und jetzt, was hast du vor?“
„Nichts.“
„Nichts?“
Was sollte diese Frage. Das nie jemand in der Lage ist, eine schlichte Negation als das was sie war, nichts weiter als eine Negation, hinzunehmen.
Ich sprach trotzdem weiter: „Ja, tatsächlich nichts. Absolut nichts. Allerdings wird es monetär etwas schwierig werden. Von jetzt an gibt es nur noch Kredit. Abgesehen von dieser Flasche Gin.“ Ich musste lachen. Ungewollt.
„Und vielleicht sollte ich meinen Eltern mal einen Brief schreiben. Oder eine Postkarte. Ist ja schließlich Weihnachten“ überlegte ich laut. Der Alte nickte langsam.
„Und was schreiben?“ fragte er.
„Tja.“ Ich atmete tief ein, schaute am Kopf des weißhaarigen vorbei und hatte schon Angst dass er beginnen würde mir Vorschläge zu machen. Aber er schwieg nur und sah mir ruhig in die Augen.
„Dass ich einfach nicht mehr will. Nie wollte.“
Ich atmete ein weiteres Mal tief. Er schaute mich nach wie vor ermunternd an.
„Also leben schon, das schon“ sagte ich
“ Aber nicht so. Mit Ziel und Plan. Immer auf irgendetwas hin. Ständig nur um- zu. Nie ohne Hintergedanken.“ Jetzt grinste er.
„Hintergedanken, die ja nicht einmal meine eigenen sind. Die mir eingeredet werden. Von überall. Von jedem. Nicht nur von meinen Eltern. Von allen. Im Fernsehen, in der Zeitung, sogar in Songs“
„Was für Songs hörst du denn?“ kicherte er.
Eine klare Beleidigung. Ich hatte einen guten Musikgeschmack. Sehr eklektisch. Besser als die meisten die ich kannte.
„Natürlich nicht in allen Songs und auch nicht vordergründig. Eher so hintenrum. Aus so einer Haltung heraus. Oder eben dem fehlen von einer.“
„Ach ja“ seufzte mein Gegenüber. „Das ist nicht wirklich neu. Lass dir gesagt sein, mit solchem Blödsinn musste ich mich auch schon herumschlagen. Und vor mir, vor uns, etliche Generationen. Und du wirst es kaum glauben, auch ich hatte irgendwann keine Lust mehr auf das alles. Auch ich hatte eine Exit Strategie. Allerdings war meine etwas radikaler als deine.“ Dabei gluckste er fast schon stolz, wie eine vergnügte Kröte “ Ich bin einfach gestorben. Wurde in der Wüste verbrannt. Also, da war ich schon tot. Meine Leiche wurde in der Wüste verbrannt. Von meinem Manager. Ich war nämlich auch mal in einer Band. In einigen sogar.“
Alles klar. Das passte. Heilig Abend mit einem Mann dessen Leiche verbrannt worden war. Wahrscheinlich vor 40 Jahren.
„Natürlich wurde sie nicht wirklich verbrannt, zumindest nicht meine. Sonst säße ich ja jetzt nicht hier – Buh!“
Er spritzte mir den letzten Rest Gin aus der Flasche ins Gesicht. Ich erschrak wirklich kurz.
Nachdem ich mich wieder gesammelt hatte, fragte ich:
“ Und, wie lebt es sich so mit dieser Exit Strategie? Als verbrannter?“
„Was soll ich sagen, hervorragend.“ Er strich sich wohlig grunzend über seinen recht umfangreichen Bauch.
„Also Junge, wir sitzen auf dem Trockendock mitten auf dem Meer. Was tun wir?“
Wunderbar, ich breitete hier mein ganzes Leben und meine Zweifel an mir und dem Planeten aus, in der vagen Hoffnung auf einen möglichen weisen Ratschlag und er will einfach nur trinken. Andererseits wollte ich aber auch weiterhin mit ihm reden. Vielleicht weil ich schon solange nicht mehr mit jemandem geredet hatte. Oder wegen der Exit Strategie. Darum sagte ich:
„Keine Ahnung. Wie gesagt, mein letztes Geld ist in unseren Köpfen. Hat den ´Aggregatzustand´ verändert wie sie vorher noch so schön sagten.“
„Aber du hast doch etwas von Kredit erwähnt?“
Das hatte er sich gemerkt. Im Prinzip war es jetzt eh egal. Wenn ich auf dem Schiff bleiben wollte bis zum Ende der Reise, würde ich ohnehin essen müssen. Ab und an. Das hieße, ich würde unweigerlich auf Kredit angewiesen sein. Eine Flasche Gin mehr oder weniger, würde die Misere sicher nicht verschlimmern. Meinen Vater würde ich damit wohl auch noch stärker verärgern. Die Chance ihn zu überzeugen hatte ich ohnehin verspielt. Im Sinne des Wortes. Und ich hatte noch die Kreditkarte, für Notfälle. Ausserdem ging gerade die Sonne auf. Rosa. Man sah die Umrisse einer Küste, die ersten Möwen kreischten zur Begrüßung ums Schiff und es roch süß. Nach tropischem Morgen.
Also stand ich auf, ein wenig wackelig, was nicht am Seegang lag, der war in den letzten Tagen praktisch inexistent gewesen. Stolperte an einem Steward vorbei, der mich höflich fragte, ob es mir gut gehe und er in irgendeiner Weise behilflich sein könne. Ich verneinte und sagte nur ich würde mir und dem Herren dort drüben noch etwas zu trinken holen. Der Steward schaute verständnislos in Richtung des Tisches auf den ich gezeigt hatte „Vielleicht gehen sie besser schlafen. Gute Nacht.“ sagte er.
Und wirklich, dort saß niemand mehr. Der weißhaarige war einfach verschwunden, hatte wohl auch sein Glas mitgenommen. Auf dem Tisch stand nur meines und die leere Flasche. Vielleicht ist er auf die Toilette, dachte ich. Wobei er dann eigentlich an mir hätte vorbei kommen müssen. Ich ging trotzdem die drei Stockwerke hinunter zum 24 Stunden Kasino. Was hätte ich auch sonst tun sollen. An ein paar Verstreuten vorbei die immer noch Plastik Chips auf Zahlenfelder schoben, zur philippinischen Barfrau, die an den fettigen Spiegel hinter der Bar gelehnt gerade eingeschlafen war und räusperte mich vorsichtig. Sie schlug sofort die Augen auf, wie eines von diesen kleinen Spielzeughündchen zum aufziehen aus meiner Kindheit. Fragte geübt freundlich, was ich denn wünsche. Ich bestellte eine weitere Flasche Gin und sprach zum ersten mal aus, was ich die ganze Reise über vermeiden wollte. „Schreiben Sie´s auf meine Kabine. 3314.“ Auf dem von ihr gereichten Thermopapier kritzelte ich noch eine Fünf als Tip und dann so etwas ähnliches wie eine Unterschrift und ging langsam wieder in Richtung Deck. Oben angekommen, war der weißhaarige immer noch verschwunden. Einfach so. Keine Nachricht, kein Zeichen. Irgendwas. Kaum beginnt man jemandem von sich zu erzählen, schon wird es ihm zuviel. Also setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl, zündete mir eine weitere Zigarette an und blinzelte in die sich langsam über den Horizont schiebende Sonne. Ich fühlte mich gut. Das erste mal auf diesem Schiff. Vielleicht sogar das erste mal seit Monaten. Ich zog den Rauch ein, blies in wieder aus und schaute zu wie er sich zum Schornstein hin auflöste, mit den Abgaswolken vermischte und dann grau zum hinteren Teil des Schiffes, darüber hinweg, den Atlantik hinauf Richtung US-Ostküste zog. Gerade begann ich mir weltläufig vorzukommen, als mir jemand von hinten auf die Schulter schlug. Ich fuhr herum und da stand er wieder. Laut lachend, im Gegenlicht der aufgehenden Sonne, bekleidet mit einem langen weißen Kaftan, langer Bart, lange Haare, Hut. Und griff zur neuen Flasche Gin. „Nachschub“, brummte er zufrieden.
„Ich habe übrigens nachgedacht. Über deine Weihnachtspost. Ich denke du solltest es nicht tun.“
„Was nicht tun?“ fragte ich
„Deinen Eltern schreiben. Exit Strategien funktionieren nur ganz oder gar nicht. Nicht einfach mal so halb. Man kann nicht halb weg sein. Das geht nur ganz. Du musst jeglichen Kontakt abbrechen. Für immer.“
Ich schaute ihn lange an. Vielleicht ein wenig zu erschrocken.
„Denk ein bisschen drüber nach, dann wirst du es schon verstehen.“ Dabei beugte er seinen massigen Körper über den Tisch, nahm die Flasche aus dem Plastik Kühleimer, schenkte uns beiden nach und sagte:
„Das hier wird jetzt von uns beiden ganz in Ruhe ausgetrunken. Und dann ist Landgang.“
„Sicher nicht.“ protestierte ich.
Er lachte wieder und sagte dann in einer albernen Admiralsstimme:
„ Bestimmt hast du doch dieses verdammte Schiff seit Wochen nicht verlassen.“
Ich spürte eine beginnende Leichtigkeit. Die konnte ich natürlich auf den Gin schieben, wusste aber auch das das nicht vollends der Wahrheit entsprach.
„Um ehrlich zu sein: nein. Sir!“ Stieg ich auf seinen Marine Blödsinn ein.
„Aber das war auch so ein bisschen der Sinn hinter der ganzen Sache mit dem Schiff. Sich bewegen, ohne sich bewegen zu müssen. Verstehen sie?“
„Sehr Originell“ grinste er. „Aber heute ist Heilig Abend. Und was könnte es besseres geben, als den mit neuen Freunden zu verbringen. Also mit mir.“ Dabei lüpfte er kurz seinen weißen Hut. „Hier in Panama, mit kühlem Bier und frittierten Bananen. Auch wenn man sich dafür vielleicht bewegen muss und den ein oder anderen Vorsatz über Bord schmeisst. Ausserdem, du musst doch mal deine Sea Legs ausprobieren.“
Er schnippte etwas das wie ein Joint aussah über die Bordwand in Richtung des sich langsam von dunkel nach hellblau färbenden Wassers und lächelte dabei auf eine Art die ihn albern allwissend aussehen ließ.
„Ach, was wissen Sie schon“ sagte ich. Das meinte ich in diesem Moment fast schon fragend.
„Oh Kid, wenn du wüsstest was ich alles wüsste, wenn ich nur wollte.“
Ein weiterer Hippie Kalender Spruch. Toll. Aber was sollte man auch anderes erwarten, von einem kiffenden Weihnachtsmann im Kaftan auf einem schwimmenden Hospiz mitten in der Karibik.
„Ich hab mal studiert. In Harvard“, sagte er in einer Mischung aus Stolz und Spott.
„Ach ja?“ gab ich zurück „Na dann.“
Eine lange Pause in der keiner von uns beiden etwas sagte. Dann fuhr ich zögernd mit etwas fort, über das ich nun schon seit mehreren Tagen nachdachte:
„Wenn sie so klug sind, dann können sie mir vielleicht sagen, ob wir schon auf dem Äquator sind, oder wann wir dort sein werden.“
„Auf dem Äquator? Kiddo, verarschst du mich. Nie.“
„Wie nie?“ gab ich irritiert zurück
„Wir fahren morgen durch den Panama Kanal. Und wenn wir da durch sind, dann an der Westküste des großen ruhmreichen amerikanischen Kontinents wieder rauf. Nach Norden. Der Äquator hingegen, ist noch ein paar klitzekleine hundert Meilen weiter südlich.“ dabei verschluckte er sich fast vor Lachen. „Schon mal was von Ecuador gehört? Ja? Und jetzt rate mal warum das Land so heißt. Na? Richtig, weil es auf dem Äquator liegt. Und wo sind wir jetzt? Panama. Was liegt noch dazwischen? Kolumbien. Also: still a long way to go.“
Natürlich hatte er recht. Wie blöd war ich eigentlich, dass ich das nicht wusste. Um mir nichts anmerken zu lassen und ein wenig vom Thema abzulenken, fragte ich so gleichgültig wie möglich:
„Und wie lange haben sie in Harvard studiert?“
Er lehnte sich zurück und zündete sich ein weiteres seiner dünnen Jointartigen Gebilde an, reichte es mir und sagte, während er mir den Rauch ins Gesicht blies:
„Nicht lange. Ein paar Monate. Und dann bin ich runter zur Westküste. Nach Kalifornien. Hat meine Eltern auch nicht wirklich glücklich gemacht. Die hatten sich ganz was anderes vorgestellt. Reiche Südstaaten Familie. Mehr Geld als mehrere Generationen jemals ausgeben könnten. Arzt oder Anwalt wäre das mindeste gewesen. Präsident der vereinigten Staaten wurde eigentlich erwartet.“
Ich zog an dem Ding, dass er mir gereicht hatte. Und es war wirklich bestes karibisches Gras. Ich dachte kurz an die Warnung bei der Abreise in New York. Jegliche Form von illegalen Drogen würden auf dem Schiff unter keinen Umständen akzeptiert werden. Sollte man mit irgendetwas erwischt werden, würde das zum sofortigen Ausschluss von der Reise und der Übergabe an die lokalen Behörden im nächsten Hafen führen. Aber solche Regeln, sind für einen Hippie Weihnachtsmann natürlich obsolet.
„Hörst du mir zu, oder hat dich das Ganja schon in den Wind geschickt?“
„Ähm, natürlich höre ich zu.“
„Das ist sehr gut. Denn hier geht es gerade um die beste aller Exit Strategien!“
„Alles klar.“
„Ich kam also nach Kalifornien. Laurel Canyon. Sagt dir das was?“
Natürlich sagte mir das was. Das ewige Lamento meines Vaters. Die einzige Chance die in den USA, ja der gesamten westlichen Welt jemals bestanden hatte. Diese zwei Jahre. Als eine ganze Generation das gleiche wollte. Herbert Marcuse an der Universität San Diego unterrichtete. Angela Davis, die Black Panthers, Weather Underground, Vietnam, Crosby, Stills, Nash & Young, Gram Parsons und die Flying Burrito Brothers. Cosmic American Music to free the world.
Ich nickte leicht wiederwillig und murmelte etwas das so klang wie `Wiege der Gegenkultur` „Genau“ brummte er wieder zufrieden. „Laurel Canyon eben. Aber selbst dort wollte auf einmal jeder etwas werden. Seltsame Entwicklung. Und weißt du was, mir ging es aber auch dort immer noch ähnlich wie dir jetzt. Ich wollte treiben, angeschwemmt werden. Irgendwo. Und sogar da lieber erstmal liegen bleiben. Werden was ich nicht kann. Die Cosmic American Music finden, um die Welt zu befreien.“ Verdammt, da war es. „Tja und nachdem dann alle werden wollten was sie eh schon waren und konnten, nur besser, da kam dann die Exit Strategie ins Spiel. Und ich habe meine Leiche verbrennen lassen. Seitdem hab ich meine Ruhe. Darum: Keine Weihnachtspost. Gar nichts mehr.“
Ich nickte während ich versuchte in dem Karussell aus Gin, Angela Davis Parolen, karibischem Ganja und einer David Crosby Melodie über das eben gesagte nachzudenken.
„Und darauf trinken wir jetzt. Auf die ultimative Abnabelung!“ Er stand auf, etwas schwankend, hob sein Glas und begann leise ‚Brass Buttons‘ von den Flying Burrito Brothers zu summen. Ich schloß kurz die Augen. Fühlte mich wohl. Als ich die Melodie nicht mehr zu hören glaubte, öffnete ich die Augen wieder. Und er war erneut verschwunden. Wieder ohne ein Wort des Abschieds, ohne ein Zeichen. Ohne irgendwas. Ich wartete noch ein wenig, trank mein Glas aus und überlegte ob es nicht an der Zeit wäre ins Bett zu gehen, meinen Rausch auszuschlafen und das alles zu vergessen. In dem Moment bemerkte ich allerdings wie wir anlegten und hörte über die Schiffslautsprecher die Information, dass wir soeben den Hafen von Colón an der Mündung zum Panamakanal erreicht hatten. Und uns die Möglichkeit zu einem mehrstündigen Landgang gegeben wurde. Ich beschloss meine Sea Legs auszuprobieren.

 

Kurze Zeit später, stand ich dann wirklich am Ausgang des Schiffes, in einer Schlange weißhaariger, die es kaum erwarten konnten ihre Rente in original Kreolische Kreolen oder günstigen Adidas Shorts anzulegen. Der einzige der natürlich fehlte, war mein weißhaariger. Ich ging trotzdem von Bord. Das erste mal seit drei Wochen wieder fester Boden unter den Füßen. Und wirklich, ich hatte Sea Legs. Alles unter mir schwankte sanft. Wie auf einer Luftmatratze im Sommer. Ich kam nicht weit. Gerade einmal kurz hinter das Kreuzfahrtterminal, durch die schnaufenden sich mitten in ihrem kleinen Abenteuerurlaub befindenden Pensionisten hindurch, an einer traurig wirkenden Band junger Männer in Fußball Trikots mit Dreadlocks vorbei, die fröhliche karibische Musik auf Steeldrums spielten und dann zur erstbesten kleinen Strandbar, auf einen Liegestuhl. Jetzt erst merkte ich wie unglaublich müde ich war. Nicht nur von der vergangenen Nacht. Ich bestellte mir ein Bier, konnte gerade noch einen Schluck nehmen und fiel dann sofort in tiefe, wirre Träume. Von Chile, meinem eigentlichen Heimatland, in dem sich aber auf einmal auch der Laurel Canyon befand. Von Pablo Nerruda der mit den Flying Burrito Brothers jamte. Und von einem gemeinsamen Frühstück mit Salvador Allende, Herbert Marcuse und Margott Honecker in Punta Arenas, dem südlichsten Ort des großen, ruhmreichen amerikanischen Kontinents.
Als ich wieder aufwachte, war mir kalt. Die vorhin noch voll besetzten Liegestühle waren größtenteils schon zu surrealistischen Burgen überall im Sand zusammen geschoben worden. Aus Richtung der Strandbar wehte leise eine karibische Version von Jingle Bells herüber. Ein junger Mann, der genauso aussah wie einer von der Steeldrum Band von vorhin, kam auf mich zu und fragte mich auf spanisch mit einem starken südamerikanischen Akzent, ob ich nicht etwas kaufen wolle und bot mir verschiedensten Krims Krams an. Ohrringe, Halsketten, kleine Trommeln. Ich fragte ihn, ob er auch Postkarten habe. Er bejahte und zog aus seiner Surfershort einen Stapel von Karten hervor. Alle mit dem selben Motiv. Einer Barbusige Frau am Strand, halb in den Sand vergraben und über ihr im azurblauen Himmel „Merry Christmas from Panama“ in pinker Wolkenschrift. „Die hätte ich gerne“, sagte ich.“ Und hast du vielleicht auch einen Kugelschreiber?“. Er kramte in seiner Shorts und fand auch den. Ich bemerkte das ich ja überhaupt kein Geld mehr hatte. Versuchte ihm in kurzen Sätzen meine Situation zu erklären. Er hörte mir zu, grinste von einem Ohr zum anderen, wünschte mir Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr, klopfte mir auf die Schulter und ging. Da erst fiel mir auf das ich die ganze Zeit in perfektem spanisch mit ihm gesprochen hatte. Ohne nachdenken zu müssen. Ich lächelte und stand auf um Richtung Kreuzfahrtterminal zurück zu gehen. Doch dort stand kein Schiff mehr. Nur noch der kleine Flachbau mit seinen Outlet Stores und Souvenierständen. Trostlos, so ohne Menschen im orangen Licht des Heiligen Abends. Das Schiff war schon gute fünfhundert Meter vom Kai entfernt, mit Kurs auf die Mündung des Panama Kanals. Absurderweise ärgerte ich mich nicht. Nicht mal ein bisschen. Ich war erleichtert. Mit dem Schiff wäre ich ohnehin nicht zum Äquator gekommen. Geschweige denn darüber hinaus. Ich würde es anders schaffen müssen. Exit Strategie. Wenn auch nicht ganz freiwillig, dachte ich mir. Und als ich dem Schiff hinterherschaute, wie es sich gemächlich durch das ruhige Wasser in der Abendsonne in Richtung Kanalmündung schob, meinte ich am Heck einen weiß gekleideten Mann mit langem Haar zu sehen, der mir mit seinem Hut wedelte. Ich lachte laut. Setzte mich wieder auf den Liegestuhl, winkte den Kellner der Strandbar heran, bestellte mir ein Bier und eine große Platte frittierter Bananen, wohlwissend das ich nicht einen Centavo besaß und begann zu schreiben:

Meine lieben Eltern,
vermutlich sitzt ihr gerade unter eurem Weihnachtsbaum. Ich sitze unter einer Palme. In Panama. Ich habe mein Leben in die Hand genommen, wie ihr gesagt habt und bin auf dem Weg zum Äquator.
Besser gesagt darüber hinaus. Weiter Richtung Süden. Ja Vater, wahrscheinlich bis Chile. Vielleicht sogar zu Fuß. Durch Kolumbien und Ecuador. Ja, Vater ich weiß was du jetzt sagen wirst. Wie Sinnlos. Und das ist es auch. In deinen Augen. Aber für mich ist es wichtig. Und Ich werde euch ein Foto schicken, vom Strand. In Arica. In schwarzweiß. So wie das von euch in der Küche. Weil, wisst ihr, auf schwarzweiß Fotos vom Strand, da sieht jeder jung aus, verwegen und voller Tatendrang. Das ist keine Kunst, glaube ich. Wir können die Fotos dann ja vergleichen.

Feliz Navidad

Félix

P.S. Ich glaube ich habe Gram Parsons getroffen. Den Musiker. Und, ja Vater, ich weiß das der eigentlich tot ist. Irgendwann werde ich dir vielleicht alles erklären.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tu Fawning – A Monument

So muss es geklungen haben, am Anfang des Jahres 1939, in den republikanischen Lokalen von Madrid: An irgendeinem Tisch in irgendeiner Ecke beginnt jemand mit dem Kaffeelöffel auf eine verbeulte Messingtasse zu schlagen, einen langsamen, stoischen Rhythmus. Und an den umliegenden Tischen steigen sie ein, klopfen auf ihre Lederjacken, ihre Munitionsmagazine, auf die Aschenbecher und Weingläser. Einer nimmt hinter der Bar eine Gitarre von der Wand, zupft erst leicht, dann immer stärker. Wieder einer bläst auf einer verbeulten Trompete. Das ganze Lokal beginnt leise zu summen. Gegen die nächste franquistische Granate, die draußen über die Dächer heult. Dann, eine kurze gespannte Stille. Schließlich eine ohrenbetäubende Explosion. Und das ist jetzt wie ein Signal. Der ganze Raum, all die müden Kämpfer, sie erheben sich und singen, nein schreien laut ihr gemeinsames Lied, ihre verzweifelte Hymne der verlornen Freiheit hinterher. Dem Leben.

Ja, so muss es geklungen haben, am Anfang des Jahres 1939 in Madrid. Und so klingt “A Momument“ von “Tu Fawning“! Lebensbejahend. Stolz. Am Abgrund.

Minor Alps – Get There

Einst, da war man jung. Man hatte eine Decke und Kopfhörer. Und war verliebt. In alles und jeden. Ich vor allem in Juliana Hatfield. Und ein bisschen in Matthew Caws. Er war gerade alle 30 Minuten auf MTV mit seiner Band Nada Surf. Und sie, ja sie war überall. Auch im Fernsehen, sicher, aber vor allem in meinem Kopf. In meinem Zimmer. Auf Bildern. Mit Stecknadeln an der Wand über dem Bett. Und jetzt, jetzt ist man nicht wirklich alt. Die beiden auch nicht. Aber es ist doch Zeit vergangen. Die Wand mit den Bildern von Juliana gibt es nicht mehr, mein Kinderzimmer ist geräumt. Die Platten von Nada Surf bekommt man ohne Nachfrage bei Saturn oder in irgendeinem Stream. Ihre Konzerte werden von Menschen gestürmt, die mir früher wohl eher hinterher gespuckt hätten. Aber meine Decke gibt es noch. Auch die Kopfhörer. Und eine gemeinsame Platte von Juliana und Matthew. Unter dem Namen `Minor Alps` Ja und jetzt, unter meiner Decke mit meinen Kopfhörern, mit der Platte, da werden Saturn, MTV und Streams, da wird Einst und Jetzt Egal. Da hört man einfach Songs. Wenn man die Augen schließt.

Arcade Fire – Reflektor

Über ein Jahr bin ich nun schon hier. In der Klinik. So sollen wir die Einrichtung nicht nennen. Aber im Grunde ist es genau das, eine Klinik. Wir sind nicht krank. Nicht im eigentlichen Sinne. Komplizierte Diagnose. Überforderung trifft es ganz gut. Überreizung vielleicht. Der Doktor sagt Hyperdigisensibilis oder so ähnlich. Das Unvermögen Informationen, vor allem digitale, ausreichend zu filtern. Wir haben hier nichts. Keine Bücher, keine Musik, schon gar keine Bildschirme. Nur unser Ich. Aber heute Mittag habe ich beim Essen einen Löffel in meinem Ärmel verschwinden lassen. Mit eben dem versuche ich gerade ein Bild aus dem Zimmer des Doktors, dass sich im Brunnen auf dem Hof spiegelt, einzufangen. Es ist die Reflektion des neuen Arcade Fire Videos. Ich kann es verzerrt im Löffel sehen. Und seltsamerweise bin ich glücklich. Absolut keine Symptome. Nächsten Monat, in der zweiten Therapiestufe, darf ich mir ein beliebiges Medium wünschen. Zum Wiedereinstieg in den Informationsfluss. Und nun weiß ich auch welches. Reflektor. Das neue Album von Arcade Fire. Heureka, die Genesung naht!

Edwyn Collins – Losing Sleep

Unlängst, um Ostern fand ich in meinem alten Kinderzimmer eine alte zerkratzte Single : “ I never met a girl like you before” von Edwyn Collins . Sofort musste ich wieder an meine erste unerwiederte Liebe, Ma´yan aus dem Schüleraustausch in Tel Aviv denken, der ich mit Bunstift in einem Brief genau diese Zeilen in schlechtem Englisch geschrieben hatte und an die unzähligen Nachmittage, die ich damals träumend zwischen Stapeln von Lps verbrachte. Ich träumte mich nach Glasgow 1982. Ich träumte von stillgelegten Fabriken mit kalten, hohen Schornsteinen, von Kopsteinpflaster, kleinen roten Häusern, von immerwährendem Regen. Und von einem verrauchten Pup, an irgendeiner Ecke. Ich stellte mir vor, dass sich dort, vieleicht immer Dienstags, die Glasgower Musiker von meinen Platten auf einige Pints trafen um im Hinterzimmer bis zur Sperrstunde ein paar Lieder zu spielen. Lieder, die genau den adoleszenten Schmerz ausdrückten, den ich selber nicht formulieren konnte. Mit “Loosing Sleep” hat ausgerechnet Edwyn Collins, der Glasgower Popprinz von 1982, diesen Traum wahr werden lassen. Er hat, vieleicht immer an einem Dienstag, in Glasgow ein Album aufgenommen, mit eben diesen Helden meiner Platten. Mit Johnny Marr von den Smiths, Roddy Frame von Aztec Camera, aber eben auch mit einigen, die wohl wie ich 1995 in ihren Kinderzimmern saßen und vom verregneten Glasgower Pop Sommer träumten. Den Cribs, Romeo von den Magic Numbers und den Drums. Und das Album klingt genau wie die Nachmittage in meinem Kinderzimmer und die Erinnerung an meine erste, unerwiederte Liebe.Nostalgisch und großartig.


Clap Your Hands, Say Yeah!


Als ich einmal wusste, was ich wirklich tun wollte, stand ich überm Hafen. Ich war, wie üblich, ziellos durch die Gegend geschlendert, als ich von weitem, verwehte Melodien hörte. Von den Häuserwänden gebrochen, zogen sie mir entgegen. Ihnen war ich gefolgt, bis oben an die Straßenecke, überm Kai. Und von unten, aus einem kleinen, wenig vertrauenserweckenden Schiff, mit dem Namen: “Clap Your Hands And Say Yeah“ drangen die Töne. Ein Satz: “We´ll make the same mistake again“ . Und da wusste ich es eben. Ich würde zur See fahren! Ich würde diese Wörter und Tonfolgen, die jetzt immer üppiger und aufbrausender herüberwehten, leise pfeifen, wenn es windstill war. Aus voller Kehle den sieben Weltmeeren und ihren Stürmen entgegen brüllen, und flüstern, zur Nacht. Ich würde, von ihnen getragen, meinen fuß auf unbekanntes land setzten und würde einsam sein mit ihnen im Pazifik. Ich würde aufbrechen. Das würde ich tun. Das würde meine Zukunft sein. Seefahrer würde ich werden, ja Entdecker. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, ich war aufgeregt wie nie. Sofort rannte ich los, die Straßen hinauf, dann die Treppe zu meinem Zimmer. Die wenigen Habseligkeiten warf ich in einen Sack, bezahlte meine Rechnung und lief sofort zurück. Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen. Doch am Kai: keine Spur mehr von dem Schiff. Stattdessen lag dort, wo gerade noch die Taue befestigt waren, etwas Rundes. Eingeschlagen in braunes Segeltuch. Eine Vinylscheibe in die der Name des Schiffes gekratzt war : “Clap Your Hands And Say Yeah“ . Und seit diesem Tag, sitze ich jeden Abend mit meinem Grammophon am Hafen und spiele diese Lieder in den Wind. Vielleicht kommt es ja irgendwann wieder, mein Schiff.

Manic Street Preachers


Als ich Kind war, gab es in meinem Heimatdorf einen ziemlich liebenswerten alten Mann. Er lebte mit zwei Ziegen, einem antiquierten Karabinergewehr, ohne fließend Wasser in einem großen Haus, dass er in Hoffnung auf eine Braut dereinst gebaut hatte. Und war Kommunist. Die Braut kam nie. Das Haus und die Ziegen blieben. Die Politik auch. Als junger Mann, hatte er in Spanien gekämpft. Nach der Kriegsgefangenschaft, saß er meist mit dem Karabiner auf einer Bank und schaute in die Sonne. War stolz auf seine Ziegen, sein Haus und seine Vergangenheit. Jetzt fahre ich gerade an dem Haus vorbei. Und höre die neue Manic Street Preachers Platte. Er, der alte Moser ist schon lange tot. Doch wenn ich daran denke, wie er uns Kindern mit bald 100 Jahren die rote Fahne zeigte und die Internationale sang, bekomme ich noch immer Gänsehaut. Bei den Manics passiert leider nichts ähnliches. Diese Songs hätte wohl selbst er, damals vor seinem Haus als etwas staubig empfunden. Politisch natürlich immer noch auf Linie, aber eben altbacken. Tut mir leid, `Masses Against The Classes´, dass ging anders.

Ja, Panik! – Libertatia


Die Geheimnisse schwinden. Man teilt ohne zu teilen. Nonsens als Information getarnt. Als Zuneigung verkleideter Exhibitionismus. Das heißt jetzt Freiheit. Eigene Gedanken verwehen. Einzigartigkeiten von Beziehungen verschwimmen zu Pudding. Der Schwarm formt sich. Reißt uns mit. Umgaukelt uns mit der Wärme des falschen Kollektivs. Mitten in der Nacht, erschrickt man. Von einer Frage, die innen an die Schädeldecke klopft. Wie viel von dem was durch meinen Tag schwirrt hat noch mit mir zu tun? Wer und was ist das da eigentlich um mich herum? In was für einer Soße schwimme ich? Vielleicht, wenn auch nur für einen Augenblick, ragt da plötzlich ein filigraner Ast in den alles umwälzenden Malstrom. So wie das neue Album der Gruppe Ja, Panik! “LIBERTATIA“. Und an dieser Fülle von anders gestellten Fragen, ermutigenden Behauptungen und, Pardon für den Kitsch: dieser Haltung kann man sich plötzlich festhalten. Wenn dazu noch die Melodien perlen wie bei einem mittleren Lloyd Cole, bekommt man wieder Luft. Weiß, man hört eine Ausnahme LP. Die vage Hoffnung flammt auf, dass ein anderer Schwarm möglich ist. Vielleicht sogar schon existiert. Einer der wirklich teilt. Schwesterlich. Brüderlich. Jenseits der Geschlechter. Von dem man unter Umständen sogar ein Teil sein möchte. Irgendwo da draussen. Unter, neben, oder auf diesem riesigen Haufen Schrott. An einem Ort namens LIBERTATIA.

Camera Obscura


25.10.2004. Hoch oben in den peruanischen Anden wehen einem Mann, der wohl für jede halbwegs vernünftige Plattensammlung des Planeten zuständig ist, die letzten Töne auf eben diesem, unserem Planeten entgegen. Er stirbt. Und mit ihm eine ganze Kultur. Der Mann heißt John Peel. Wichtigster Musikvermittler des Universums. Die Kultur, ist die absolute, bedingungslose Hingabe an Geräusche, an Töne, die sich im besten alle Fälle zu Melodien verbinden. Und die Liebe zu den Menschen die diese Melodien ersinnen. Jetzt, im Juni 2013 veröffentlichen zwei Damen und drei Herren eine neue Sammlung eben solcher Geräusche, Töne. Ihr Name: Camera Obscura. John Peel hat sie geliebt. Sie waren und sind einer der besten aller Fälle. Und sie verbinden Geräusche, die Töne zu Melodien. Sie sind die Melodie. Und man kommt nicht umhin sich zu wünschen, dass John Peel in seinen letzen Minuten in die schwindende Andensonne sah und die Geräusche die ihn umwehten ein bisschen so klangen wie ihre neuen Lieder. Denn dann ist er glücklich gegangen. Und was uns bleibt, ist ein auf Vinyl gebannter Splitter Trost.

The Smiths – Complete


Zu Weihnachten, in den vielen doch eher ruhigen Stunden in meinem Elternhaus hatte ich über Jahre das immergleiche Ritual. Ich hatte einen Brieffreund in England. Sein Onkel nahm jedes Jahr die “Festive 50“ von John Peel auf BBC1 auf. Die Jahresbestenliste der Indienerds. Und die überspielte der Onkel dann alle meinem Brieffreund. Und mein Brieffreund wiederum mir. Natürlich auf MC. Unterm Rauschen des Magnetbandes hörte man die beste Musik der Welt. Manchmal auch nur das Rauschen. Ich saß dann in meinem alten Kinderzimmer, mit Teelichtern auf den Boxen, einer Tasse Kakao. Und träumte mich, je nach Kassette, in das Großbritannien von 1984, 86, oder 88. Am Ende jeder Sendung, nannte John Peel die Band mit den meisten Titel in den “Festive 50“. Und das waren eigentlich immer die Smiths. Die Band, die wie keine andere Außenseitertum, Alleinsein, die Schönheit des Solitären umarmte. Die Band die wohl unzähligen verwirrten und wütenden Teenagern, inklusive mir, seit den frühen 80ern einen ganz eigenen Stolz gegeben hatte. Wir gegen die Welt! Jetzt bin ich 30 und wieder ist Weihnachten. John Peel ist schon fast zehn Jahre tot und Radio höre ich schon lange nicht mehr. Auch nicht aufgezeichnet. Aber die Smiths. Und ihre Alben sind jetzt remastered worden. Von Johnny Marr, ihrem Gitarristen. In einer wunderschönen Box, mit ausführlichen Linernotes. Natürlich werde ich wie jedes Jahr über die Feiertage Nachhause fahren. Es wird wieder sehr ruhig werden. Aber das ist gut so. Denn ich habe etwas vor. Ich hab mir mein Weihnachtsgeschenk schon selbst gekauft. 8 Cds. “The Smiths: Complete“. Das sollten sie auch tun!

Eels – Wonderful Glorious

In der zweiten Hälfte der 90er war Populärmusik beschissen wie nie. Deshalb war es gefährlich jemanden Nachhause zu begleiten. Wie soll ich’s sagen, es fiel mir oft schwer zu verstehen, dass es Menschen gab die Jamiroquai für den größten Künstler des Abendlandes hielten. Gerade bei Mädchen, in die ich mich möglicherweise verlieben wollte. Ich definierte mich und andere eben vornehmlich über das heilige Plattenregal. Engstirnig, ich weiß, aber das ist das Privileg der Jugend. Manchmal gelang mir jedoch so etwas wie eine kleine Volte. Es gab da eine Band, auf die man sich einigen konnte: Die Eels. Ihr Album “Beautiful Freak“ lag in fast jedem Zimmer herum. Es rettete mich aus einigen verzwickten Situationen. Ja, bescherte mir sogar prägende Momente der Adoleszenz.

Nun veröffentlichen die Eels immer noch in schöner Regelmäßigkeit Alben. Noch verschrobenere als damals. Das neue, “Wonderful Glorious“, eignet sich dann auch nicht mehr wirklich für Teenagerknutschereien. Von Menschen bei denen man diese Platte findet, kann man sehr wahrscheinlich aufregendere, erwachsenere Sachen erwarten.

The Pastels – Slow Summits

Ein vom Frost zerfressener Karfreitag in den unwirtlichen Katakomben des Flughafens Frankfurt. Die Widrigkeiten der modernen Mobilität hatten mich verschlungen, zerkaut und wieder ausgespuckt. Mich acht Stunden meines Lebens verschwenden lassen, zwischen hysterischen Osterurlaubern und vor Kälte strotzenden Frequenttravelern. Dabei wollte ich nur Nachhause, zur Familie. Die Tradition. Aber es hatte nicht sollen sein. Bevor ich mich todesverachtend die Rolltreppe hinunter, in den hell erleuchteten Duty Free Bereich stürzen konnte, retteten mich Stimmen. Aus meinen Kopfhörern. Sie flüsterten mir zu: Verzage nicht! Verbringe doch Zeit mit Uns. Mit unserer Musik. Wir schenken dir etwas: A Home Away From Home! Sie hatten Recht. Glitzernde Gitarren, verhuschte Melodien. Eine warme Erinnerung an `95. Oder ´85? Egal. Eingerollt, in eine dunkle Ecke des grauenhaften Baus, auf zerknüllten Ausgaben des Handelsblattes verbrachte ich den schönsten Karfreitag meines Lebens. Mit Stephen und Katrina, ihrer Band The Pastels, einem Pappbecher Rotwein und dem Wunder des neuen Albums “Slow Summits“.

Arctic Monkeys – Suck it and see


Wenn man nach langer Zeit, wieder Nachhause kommt, schwirrt über allem eine Essenz von Erinnerung. Der Staub der sich auf dem Bücherregal gesammelt hat, in den Nächten, vorne am Tisch. die leeren Rotweinflaschen in der Küche und die geatmete Luft, die man vergessen hat hinauszulassen, bevor man aufgebrochen war. Sie hängt noch immer im Flur. Und dann reißt man die Fenster auf und lässt das alles hinaus, schickt den verbrauchten Gedanken noch ein paar letzte Grüße hinterher, lässt sie sich verstreuen und in neuen Zusammensetzungen, in neuen Nächten durch andere Fenster irgendwo wieder hineinschleichen. Heute mischt sich diese Luft, mit den Tönen der neuen Arctic Monkeys Platte und ich fülle die Waschmaschine mit der dreckigen Wäsche der letzten zwei Monate. Die Arctic Monkeys, dass war die verherrlichende Manifestation der Adoleszenz. Romantisch und Herzzerreißend wie eine betrunkene Liebesbotschaft per SMS an die falsche Person. Die bedingungslose Verehrung des Momentes, egal wie er beschaffen sein mag. Doch, die Töne die sich jetzt mit meiner alten Luft mischen, sind andere. Überlegte, vernünftige und ja, ich erschaudere, erwachsene. Und ich sehe wie aus dem Fenster nicht nur die alte Luft und diese Musik auf die Strasse fließt, sondern gleich meine ganze Jugend hintendrein. Dunkle Wolken der Vernunft wollen sich brutal und rücksichtslos hereindrängen. Erschreckt, schmeiße ich augenblicklich die Fenster zu, schalte die Waschmaschine nicht ein, öffne mittags eine Flasche Rotwein, lege die neue, famose Platte der Band Ja, Panik auf und ergehe mich in irrational Gedankenspielen! Ich atme durch und weiß es wieder: Die Vernunft muss mit allen Mitteln zurückgeschlagen werden!


Element Of Crime – Fremde Federn


Tag zwei nach dem heiligen Abend. Ungefähr. Schwierig den Überblick über die Zeit zu behalten. Wie oft hat Sven Regener jetzt schon My Bonnie Is Over The Ocean gesungen? Last Christmas habe ich auf jeden fall viermal zurück gespult. Ich habe noch dreieinhalb Spekulatius. Trinken ist nicht das Problem. Glühwein gibt es noch genug. Und durch das geborstene Fenster rieselt immer neuer Schnee nach. Feuerholz wird schwieriger. Das geht wirklich zur neige. Demnächst werde ich wohl anfangen müssen den Tisch und die Stühle zu zerlegen. Aus dem Kassettenrekorder jetzt: “I Started A Joke, Which Started The Whole World Crying“. Ja, wirklich ein guter Witz. Aber, wer wird wohl wegen mir weinen? Der Diesel für den Generator reicht jedenfalls nicht mehr lange. Dann wird es dunkel werden. Und still. Unten im Tal trinken sie wahrscheinlich gerade ihr drittes Flügerl. Singen vielleicht zu den Pet Shop Boys. “You Only Tell Me You Love Me When You´re Drunk“. Beim Christtanz. Eigentlich wäre ich jetzt dabei. Es ging ja nur um eine Nacht, hier oben in der Hütte. Einmal nicht im Weihnachtswahnsinn mitmachen. Wirklich allein sein. Nur ich, dass vergangene Jahr und eine Kassette. “Fremde Federn“ von Element of Crime. “Leise Rieselt Der Schnee“ singt es aus dem Rekorder. Mit dieser scheiß Lawine konnte nun wirklich keiner rechnen. Das ist wohl Ironie. Meine letzte Zigarette. Die Glühbirne beginnt zu Flackern, das Lied bedrohlich zu eiern “…nothings gonna change my world. “Across The Universe“. Bei Element of Crime Konzerten immer der letzte Song. Sven, verlass mich nicht! Solange du noch singst, hab ich Hoffnung. Spätestens Morgen ist die Bergwacht hier. Ganz sicher. Frohe Weihnachten, Welt!

 

Kasabian – Velociraptor


Manchmal erinnert man sich ja gerne an diese ersten Sommernächte der Jugend, die man mit Tetrapackwein im Park verbracht hat. An die ersten, ungeschickten Küsse und die betrunkenen Freundschaftsschwüre. Dieses Gefühl, dass genau Das, was jetzt in diesem Moment passiert, für immer und ewig wahr und richtig bleiben wird. Auch wenn der Abend kotzend auf der Toilette im Elternhaus eines Freundes endet. Und wenn man dann am nächsten Morgen mit einem Höllenkater aufwacht, mit einem schalen Geschmack im Mund aber der Sicherheit im Herzen, dass man jetzt weiß wie der Hase läuft und was das Leben ist, kurz das man jetzt erwachsen ist, dann fühlt man sich unbesiegbar! Empire! Aber die Jahre vergehen und alles ändert sich immer und immer wieder. Tetrapacks werden zu Glasflaschen, Küsse zu Beziehungen, Freundschaftsschwüre zu Wohngemeinschaften und Gebüsche zu anderen Kontinenten. Von Jahr zu Jahr fühlt man sich weniger unbesiegbar. Das Empire beginnt zu bröckeln. Man weiß einfach immer mehr, und dieses Wissen lässt vieles aus der Vergangenheit schlicht naiv erscheinen. Niedlich fast. Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Kasabian Album. Mit sechzehn Jahren in einer Sommernacht im Park, mit Tetrapackwein, den besten Freunden und einem Mädchen das man glaubt zu lieben, da ist das sicher eine aufregende Platte. Aber man ist nicht mehr sechzehn. Und außerdem kennt man “Screamadelica“ von Primal Scream. Die Platte war schon aufregend als man vierzehn war und wird es noch sein, wenn man Achtzig ist. Also merke: Empire und Unbesiegbarkeit sind irgendwann schlicht egal, irgendwann zählen nur noch Songs die einen durchs Leben bringen. Und die gibt es auf “Velociraptor“ nicht.

Max Prosa


Sommer 74, die Sonne spiegelte sich im Fernsehturm. Blendete mich. Ich saß auf dem Alexanderplatz. In der Stadt des Friedens. Die stehende Augustluft zerfaserten Stimmen in den unglaublichsten Sprachen. Aus der ganzen Welt waren sie gekommen. Zu uns, den jungen Menschen Berlins. Gemeinsam träumten wir von der Zukunft. Wir feierten, redeten die Nächte durch und sangen uns unsere Lieder vor. Viele waren entstanden, jetzt wo alles so anders war, so neu. Nicht weit von mir lehnte ein Junge an einer Laterne und sang leise zur Gitarre. Ich weiß es noch, ich dachte ich höre die Zukunft. Nachts auf dem Heimweg, in der S-bahn, hatte ich noch immer sein Lied im Kopf. Draußen kratzten die Lichter der einschlafenden Sommerstadt am Fenster. Ich träumte. Alles war möglich. Doch die Zukunft, sie wurde nicht wie der Sommer. Die Jungen mit den Gitarren sangen auf einmal die Lieder von anderen. 40 Jahre später, ist wieder alles anders, alles möglich. Es gibt wieder Jungen mit Gitarren. Max Prosa heißt ihr spannendster. Vielleicht, hoffentlich, singen diese Jungen diesmal nur ihre eigenen Lieder.

Beatles – At The BBC


Das Ende des Jahres steht vor der Tür. Mal wieder. Und während draussen Bäume umgerissen werden, denke ich über Enden nach. Mal wieder. Zügig kommt man da zum Ende der Menschheit. Der alten Frage: was bleibt? Nicht von der eigenen kleinen Existenz, sondern von allen. Dem ganzen Gekröse dass seit geraumer Zeit über den Planeten herfällt. Wohl ein paar Dokumente, ein paar Bauwerke. Die Pyramiden, New York City vielleicht, der Damm am Yangtze. Dann noch einiges an Müll, sowohl im Weltraum als auch auf dem Planeten selbst. Letztlich aber, wird sich die Erde von all dem über kurz oder lang entledigen. Das einzige was die Ewigkeiten überdauern wird, zumindest im Kosmos, sind unsere Radiowellen. Nicht unbedingt beruhigend, bei all dem Murks der pausenlos ins All geschickt wird. Teilweise beruhigend aber ist die Tatsache das es zwischen all dem Schrott auch großes gibt. Die Beatles bei der BBC beispielsweise. Das ist ein fast schon beschämend positives Exempel der menschlichen Gattung. Mit welcher klugen Naivität diese vier Männer da über uns, die Menschen singen, lässt einen hoffen das in einer weit entfernten Zukunft irgendeine andere Lebensform irgendwo im Kosmos genau über diese Radiowellen stolpert und sich durch sie ein Bild von unserer Zivilisation macht. Auch wenn es natürlich ein falsches sein wird. Das wäre mein Wunsch zum Fest der Liebe, der Hoffnung: Aliens hört die Beatles: Live At The BBC und Mitmenschen, tut das auch! Es wird euch zumindest für kurze Zeit besser gehen.

Franz Ferdinand


Beginnt bei mir jetzt jener Abschnitt des Lebens, in dem man denkt die Zeit vergehe zu schnell und die Gegenwart tauge nichts? Letzte Woche, habe ich doch erst an der Bar des Atomic Cafes mit meinem freund Dirk gewettet, dass `Take Me Out´ größer wird als jede Strokes Single, oder? Gestern Nacht erst, habe ich doch eben jenes Lied dann in einer absurden Plastik-Menschen Bar in Beverly Hills gehört. Und all die Silikon und Botox Zombies lächelten selig, wippten und summten mit, oder? Und gerade eben haben wir doch erst den Wetteinsatz, Lachs und Champagner, zu `Darts Of Pleassure´ auf dem Franz Ferdinand Konzert genossen, oder? Nein. Erschreckender Weise ist das alles 10 Jahre her. Und ja, beim neuen Album sitzen die Hi-Hats natürlich immer noch an den richtigen Stellen, die Gitarren sind schön nervös und zackig, es gibt auch wieder die großen Refrains. Alles wie gehabt. Vielleicht sogar besser. Doch Gänsehaut, ja ein wenig feuchte Augen, bekomme ich nur bei der Ballade. Um Gottes Willen: War früher alles besser? Werde ich jetzt etwa alt? Oder stimmt mit der Platte etwas nicht?

Naked Lunch


Irgendwann wir das Schwarz zwangsläufig das Rot verschlingen. Doch damit ist der Kampf nicht verloren. Jeder kleine Fetzen, der der Dunkelheit abgerungen wird, muss ans Herz gedrückt, mit Tränen getränkt, für immer bewahrt werden. Oft liegt man im Rinnstein, starrt zu den Sternen. Aber die Sterne, sie sind da. Und wenn man dann da so ausgekotzt herumliegt, zerrt einen ab und an etwas hoch, treibt einen vor sich her. Auf einen Berg. Durch sich lichtende Wolken. Ans Ende. Zum Gipfel. Man sieht alles ausgebreitet vor sich. Atmet. Und oft ist das was einen zerrt und vor sich hertreibt Musik. Lieder. Über Kämpfe, Enttäuschungen und ja, auch Triumphe. Naked Lunch machen solche Lieder. Immer schon, aber vor allem jetzt wieder. Auf ihrem neuen Album “All Is Fever“. Und sie ziehen, zerren und schupsen einen durch den Nebel. Flüstern einem zu: dieser ganze Wahnsinn ist gar nicht so einzigartig. Anderen passiert, oder passierte er auch. Ähnlich. Schlimmer. So muss es sein. Das ist wohl das, was wir Leben nennen. Verzeihen sie mir das Pathos, aber ich bin gerade glücklich dieses hier mitzusingen: Keep It Hardcore, Keep It Real! Denn: wieder wurde dem Schwarz ein Fetzen Rot abgetrotzt.

Richard Hawley

Früher, ich ging noch zur Schule, tat ich genau das gerne nicht. Hingehen. Stattdessen war meine allmontagliche Lieblingsbeschäftigung der Besuch eines kleinen Plattenladens, der immer die neuesten Importsingles und Musikzeitschriften aus Großbritannien führte. Der Besitzer war ein angemessen schlechtgelaunter Zeitgenosse, vor dem mich immer ein wohliger Schauer des Respekts überfiel, wenn ich den Laden betrat. Eines Montags drückte er mir eine blaue Single von einer Band namens “Longpigs“ in die Hand und sah mich wissend an. Er hatte Recht, wochen-, ja monatelang sollte ich keine andere Band mehr hören. Gitarrist war ein Mann namens Richard Hawley. Und er veröffentlicht nun dieser Tage sein 7. Soloalbum. Das klingt so, wie ich mir ein Album des Plattenladenbesitzers von damals vorstellen würde. Voll wohliger Erinnerungen an eine Zeit, als die Vermählung von Melodie und Gitarrenkrach noch klang wie die Zukunft. Erinnerungen an die 90er. Ich werde morgen wohl mal wieder zu seinem Laden fahre. Und ich denke ich weiß, welche Platte er mir mit wissendem Blick in die Hand drücken wird.

Peter Licht


Einer der letzten sonnigen Sonntage und ich erwache irritierend früh. Nachdem ich circa eine Stunde aus dem Fenster auf die sich von der Nacht erholenden Straße geschaut habe, beschließe ich etwas zu tun das mich an Früher erinnert. Früher bin ich am Sonntag gern auf den Flohmarkt gegangen. Um in Platten und Bootlegs zu stöbern. In Bravos aus den Sechzigern und Bandshirts. Dann, gern noch eine Bratwurst, und gegen 17 Uhr fuhr ich mit einer Tasche voller Vinyl und schwarz gepressten Cds Nachhause. Gen Plattenspieler. Genau das will ich wieder machen. Also Raus. Zwischen Feierleichen im Slalom Richtung Strasse des 17. Juni. Dort, auf dem Flohmarkt sieht es von weitem aus wie immer. Als ich näher komme eigentlich noch. Es gibt Türklinken, Knöpfe, alte Messing Reklameschilder und unbrauchbare Musikinstrumente. Es gibt restaurierte Möbel und hässliche Ölgemälde. Auch Seidetücher gibt es noch. In jeder erdenklichen Farbe. Aber etwas fehlt. Etwas, wegen dem ich hergekommen bin. Es gibt keine Platten. Keine Bravos. Und Bandshirts schon mal gar nicht. Missmutig schlängle ich mich Richtung Bratwurststand. Den gibt’s noch. Und dann, mit der Wurst in der Hand, entdecke ich doch noch, in der letzten Ecke einen kleinen Stand mit Platten. Alles zwei Euro! schreit mir ein Mann ins Ohr. Lustlos sammle ich ein paar Lps aus der Kiste. Der Senf von meiner Wurst tropft auf ein altes Nirvana Bootleg. Und plötzlich merke ich wie ich weine. Ich glaube ich habe noch nie so empfunden, das Zeit vergangen ist. Und dann merke ich, dass ich die ganze zeit die neue Peter Licht Platte auf meinem Smartphone (dass besser ein Walkman wäre) gehört habe. Selten hat Musik so gut zu einem Moment gepasst.

And You Will Know Us By The Trail Of Dead


Eines Abends, am Ende des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung, fand ich mich allein, in den verlassenen Strassen einer Kleinstadt wieder. Neben mir, ein von Nebelschwaden gesäumten Fluss. Ich beschloss meine Zukunft diesen Schwaden zu opfern. In dieser Welt gab es absolut nichts mehr für mich. Ich hob zum Sprung an, aber ein roter Schein zuckte über mein Gesicht. Ich sah mich um. Von einem kleinen, unscheinbaren Gebäude drangen kakophonische Gesänge und metallisches Grollen herüber. Aus den Fenstern flackerte Licht, wie von Feuer. Ich war irritiert. Ich querte die Strasse, öffnete eine Tür, und stand in einem niedrigen Raum an dessen Ende sich eine brennende Bühne befand. Vor mir vielleicht ein dutzend zuckender Menschen. Gerade entzündete ein Mann eine riesige Basstrommel nur mit seinem Atem. Ein anderer schlug wie von Sinnen seine Gitarre auf einen Verstärker, während drei weitere, stoisch einen notorischen, sich selbst überholenden Rhythmus in die Bretter des Bodens hämmerten. Und über allem schwebte, einem Mantra gleich, die süßeste Melodie die ich je gehört hatte: “All Empires Must Fall!“ Dann brach die Hölle los. Die Zerstörung! Der ganze Raum stand in Flammen. Langsam, erst unsicher, fügte ich mich dem Reigen. Und plötzlich wussten wir es alle: Dies war die Zukunft. Nicht wir mussten uns zerstören, alles andere musste zerstört werden. Wir waren glücklich, denn wir waren nicht mehr allein. Wir stürmten in die Nacht und riefen: “And You Will Know Us By The Trail Of Dead!“ Seit dieser Nacht sind zehn Jahre vergangen und es gibt wieder ein neues Werk dieser Band. Voll zerstörerischer, himmlischer Melodien gegen die Welt. Für die Zukunft! Für den Untergang!

The Kills


Barcelona liegt mittlerweile 3 Stunden hinter uns. Die Luft kriecht schwer und schwarz durch die halbgeöffneten Fenster des Autos. Im gelben Flackern der Mautstellen Beleuchtung, sehe ich kurz deinen Lippen aufblitzen. Konzentriert an einer Zigarette ziehend. Genau so zogen sie gerade noch an meinen Lippen. Ich schmecke mit meiner Zunge nach. Ich erinnre mich. Blut. Nur ein bisschen. Umso weiter wir ins Nichts vorstoßen, umso schwächer wird das Flirren in meiner Brust. Wie weit weg, ist weg? Wie neu, muss neu sein, damit sich wirklich etwas ändert. Meinen Koffer habe ich gestern verloren. Vom Offensichtlichen, habe ich mich also entledigt. Und dann habe ich dich gefunden. Dich und dein kleines französisches Auto. Ein kurzer Blick, dort an der Ampel und wir wussten es beide. Im Jetzt hält uns nichts mehr und wenn man Zukunft schmecken will, dann muss man Tabula Rasa machen. Die Melodien türmen sich um uns auf. Es ist fast unwirklich, dass das alles aus diesem kleinen Autoradio kommen soll. Und wir schwimmen glücklich im Klischee in Richtung Süden. Dann, an einer kleinen Tankstelle fahren wir raus um uns eine Flasche Rotwein zu kaufen. Im Morgengrauen. Vor uns liegt die Mancha, hinter uns ein Leben. Jeder hatte eines für sich. Aber jetzt, während Alison Mosshard und Jamie Hince lüstern über diesen Beat flüstern, aus dem Auto mit den weit geöffneten Türen. Jetzt wo du ganz nah bei mir stehst und ich diesen süßen Duft aus Nacht, Schweiss und Zigaretten riechen kann, der sich mit Pinien mischt. Jetzt kann uns nichts und niemand mehr aufhalten Jetzt gehört das was vor uns liegt nur uns, uns gemeinsam. Und es heißt Zukunft. Die Musik dazu, ist “Blood Pressures“ von the Kills.

Beady Eye 


Wir wissen es längst. Die Bienen werden sterben. Die Sonne wird sich verdunkeln. Die Blumen werden verblühen. Und sogar die Liebe wird von diesem Planeten verschwinden. Langsam werden sich die schwarzen Wolken der Apokalypse zusammenbrauen. Nichts wird mehr sein wie es war. Aber, einfach werden wir uns nicht geschlagen geben. Der süße Nektar der Nostalgie wird uns nähren. Als Vinyl gewordene Träume wird er uns leiten, durch die dunklen Zeiten. In zerfetzten Paisley Hemden, im Licht von Lavalampen sitzend werden wir unsere letzten Zigaretten teilen. In abgewetzten Parkas werden wir jeden Tag aufs Neue aus feuchten Bunkern kriechen um zu sehen ob die Sonne vielleicht trotz allem wieder aufgeht. Nur um dann doch wieder zurück ins Dunkel zu kriechen, zu unseren Plattenspielern. Aber wir haben ihn noch. Den Zaubertrank. Den Nektar. Die Melodien. Wie ein altes Fotoalbum, leicht zerkratzt, drehen sie sich auf den Tellern unter der Nadel. Und dann werden wir alles noch einmal vor uns sehen. Die Beatles im Shea Stadion. The Who live at Leeds. The Jam im 100 Club und Oasis at Knebworth. Wir werden uns in den Armen liegen, so wie damals. Wir werden kurz wieder den Geruch von verschüttetem Dosenbier und Männerschweiß riechen. Die gelallten Freundschaftsschwüre hören, das brennen von Speed in der Nase spüren und den Sonnenuntergang über Manchester ahnen, während Ian Brown singt: “I Wanna Be Adored!“. Das ist die Essenz des Rock `n´ Roll. Sie wird uns über die dunklen Jahre retten. Und vielleicht werden Beady Eye, die neue Band vom kleinen Gallagher, auch irgendwann Teil von ihr sein. Wer weiß das schon genau. Wohl nur die Nadel des Plattenspielers der Ewigkeit. Ihr sind wir ergeben.

 

Sufjan Stevens : Christmas Box

Ich hab mal Weihnachten verpasst. Fast. Zumindest meinen Flieger in die Heimat. Nach einem ausgiebigen Gansessen mit reichlich Rotwein erwachte ich am 24. erst gegen Mittag. Der unangenehme Anruf Zuhause war schnell überstanden. Und dann eröffnete sich mir plötzlich ein völlig neues Fenster der Freiheit: Nämlich das Fest der Liebe einmal ganz alleine zu verbringen. Kein Baum, kein Besinnlichkeitszwang und vor allem keine Verwandtenbesuche. Stattdessen eine Flasche Whisky, leere Straßen und der Grinch im Fernsehen. Auf Mute. Nun ist es wieder einmal kurz vor dem Feste, die Dominosteine und Spekulatiusschachteln fallen einem schon am Eingang jedes verdammten Schreibwarengeschäfts entgegen, das Partyhaus vom Nikolaus auf dem Alex wird bald wieder stehen und natürlich hat Zuhause auch schon angerufen. Wie denn meine Pläne so wären. Um den 24. Es verhält sich jetzt aber so, dass sich unser aller Lieblingsgrößenwahnsinniger Sufjan Stevens für die besondere Zeit des Jahres, immer etwas besonderes einfallen lässt. Diesmal: Eine Box namens : “Silver & Gold“. Sie versammelt seine letzen 4 Weihnachts Ep´s. Das sind insgesamt 58 Lieder. Alle gut. Ehrlich. Der Mann muss eigentlich noch für geschätzte 49 Bundesstaaten jeweils ein Album schreiben, aber hierfür hat er augenscheinlich Muße. Und nun ertappe ich mich dabei, mir zu wünschen ich könnte mein einsames Weihnachten von vor ein paar Jahren wiederholen. Mit diesen Songs. Das wäre ein wirklich besinnliches Fest. Ich würde wohl für einen Moment die Fenster aufreisen, die Anlage aufdrehen, in Unterhose auf den Balkon gehen, eine Zigarette rauchen und die ganze Strasse mit diesen wunderbaren Songs beschallen. Und vielleicht würde es dann sogar, nur ganz leicht, in meinen Whisky schneien. Aber da wäre halt noch dieser Anruf. Zuhause.

 

Lambchop

Am Anfang war er sich nicht sicher. Er ging weiter. Bis zur Straßenecke. Schaute unauffällig zurück. Aber diese Haltung, wie er da saß. Diese geschäftige und doch nachlässige Art an der Zigarette zu ziehen. Und natürlich das Räuspern. Es konnte niemand anderes sein. Also hin. Einfach so. Nach allem was vorgefallen war. So schnell, dass er fast über die Bank stolperte. Sofort sah D. auf. Er war alt geworden. Falten. Vor allem um die Augen. Aber er hatte noch immer denselben verwunderten Ausdruck, der in Sekunden in das größte Lächeln umschlagen konnte. Sie sahen sich an. Nicht wirklich lang. Dann umarmten sie sich. Stumm und sehr fest. D. bot ihm eine Zigarette an. Aus einem Fenster hoch über dem Fluss, hörten sie eine sonore Stimme über Streichern zart zu ihnen singen. Diese Stimme kannten sie. Auch das war lang her. Die Lieder jedoch, konnten sie sofort mitsummen. Sie waren wie sie. Alte Freunde. Schon jetzt. Und dann wussten sie auch was das für Musik war. Lambchop. Ab jetzt gehörte alles untrennbar zusammen. Diese Freundschaft und die wunderschönen neuen Lieder dieser Band.

Maximo Park


Nehmen wir an, Ray Kurzweil hört gern aktuelle Musik. Vielleicht saß er dann an einem Herbstnachmittag 2003 in seiner Schreibstube, dachte über die Idee der technologischen Singularität nach, die besagt, dass sich Jahr für Jahr der technologische Fortschritt expotentiell zum gesellschaftlichen steigert, und hörte A Certain Trigger von Maximo Park. Dieses Monster einer Single, die so unverschämt modern klang. Und doch mit dem richtigen Fuß in der richtigen Vergangenheit. Womöglich klopfte er dann den Beat auf seinem Superzukunftscomputer mit und dachte kurz, das er unrecht hat. Ewiges Leben wird vielleicht nicht mit Nanotechnologie, sondern nur mit himmelstürmenden Hooklines erreicht. Und nehmen wir an, dass er im kommenden Herbst die neue Maximo Park hört. Er wird sich lächelnd zurücklehnen, denn er hat wohl Recht behalten. Diese Songs wurden überholt. Aber das ist sehr beruhigend. Denn sie sind sicher um einiges schöner als Musik, die von nanotechnologisch gesteuerten Halbrobotern gespielt wird. Außerdem benutzen Maximo Park bestimmt Kurzweil Synthesizer. Wo nur, führt das nun hin?

Blondie – Panic of Girls

Jeden Abend, kurz bevor ich das Licht löschte, schaute ich immer noch einmal auf das Bild. Ich schaute über die frühsommerlichen Strassen von New York City, bis hinten an die Ecke, wo ich im körnigen schwarzweiß Nebel das CBGBs vermutete. Dann sah ich Ihr noch einmal in die in den Himmel starrenden Augen, schloss die meinen und träumte mich in die geheimnisvollen Nächte auf der Bowery. Morgens war dann das erste was ich sah der graue Sonnenaufgang über der Lower East Side. Und wieder ihre Augen, immer noch mit demselben verzehrenden Blick. Ich riß mich los, bereit für Tristesse, die mich draußen im Berliner Tag erwartete. Bewaffnet, mit meinem klapprigen Walkman, in dem eine überspielte Version von “Parallel Lines“ steckte, meiner Röhrenjeans, dem alten löchrigen Sakko mit den Pins und meiner Pencilkrawatte war ich dann einer von ihnen. Einer von den Kids aus dem CBGBs. War wie Tom Verlaine, wie Richard Hell, die der der Welt lächelnd ins Gesicht spuckten. Und wie sie war ich verliebt in Debby Harry. Wenn auch die Welt die ich bespuckte viel kleiner war als ihre, und meine Debby nur aus belichtetem Zelluloid bestand, dass auf Fotopapier kopiert war. Aber dieses Foto und die “Parallel Lines“ Kassette von Blondie zogen mit mir in den Jahren darauf hinaus. In eine Welt, die jetzt auch für mich größer wurde. Und in jeder neuen Stadt, jeder neuen Wohnung, war das erste was ich tat, dass Foto von Debby wieder über mein Bett zu kleben. Immer im exakt identischen Winkel. Und dann die “Parallel Lines“ anzuhören. Heute Morgen habe ich die neue Blondie Platte „Panic Of Girls“ bekommen und aufgelegt. Das Foto ist von der Wand gefallen. Ich denke ich werde es nicht mehr aufhängen.

 

The Shins – Port Morrow


Ich stell mir das ungefähr so vor: auf einer Insel, irgendwo, draußen zwischen den Kontinenten, sitzt ein zufriedener Mann. Er ist angekommen. Doch sein Weg dorthin war weit. Und er erzählt uns von dem was gewesen ist. Von den Entsagungen, dem Schmerz aber auch dem flüchtigen Glück, den Zufällen die seinen Weg säumten. Er erzählt davon, in Liedern die den Himmel umarmen mit Melodien und Worten die wir sofort verstehen und dann später noch mal verstehen. Aber diesmal anders. Er sitzt dort also, unter einem Baum. In Nächten die immer von Vollmondglanz erhellt sind und Tagen an denen die Sonne stets mit der gemächlich nachlassenden Wärme eines sommerlichen Spätnachmittags scheint. Und weil er ein guter Mann ist, schickt er uns seine Lieder, weit übers Meer, in unsere grauen Tage. Vielleicht ist es nicht ganz so. Vielleicht sitzt der Mann auf keiner Insel, sondern nur in Portland, Oregon. Aber diese Lieder, die gibt es wirklich und denn Mann auch. Es ist James Mercer von den Shins. Die Lieder sind auf seinem neuen Album „Port Morrow“. Und es ist das schönste des Jahres. Jetzt schon.

The Drums

Als Robert Wratten eines Morgens das Radio einschaltete, verschluckte er sich fast an seinem Earl Grey. Er konnte nicht glauben was er da hörte. Ein junger Mann, sprach über ihn und seine Musik. Über die Field Mice, die Band die Robert in den späten Achzigern gegründet hatte. Er sprach auch über Sarah Records, ihr Label damals. Und dann spielte er “Lets Kiss And Make Up“. Robert hatte dieses Lied vor über 15 Jahren geschrieben. Das es im Radio lief, war an sich nichts Besonderes. Aber sonst wurde Roberts Musik nur Nachts, in Spezialsendungen, auf kleinen Universitätssendern gespielt. Das hier jedoch, war die Bbc. Radio One. Und es war Neun Uhr Dreißig Morgens. Beste Drivetime Radio Zeit. Mit keiner seiner Bands, weder mit den Field Mice, noch der Northern Picture Libary oder den Trembling Blue Stars war ihm das gelungen. Sie waren erfolgreich gewesen, dass schon. Aber eben immer nur in einem kleinen, überschaubaren Rahmen. In der Welt der Plattensammler und Fanzine Schreiber. Und jetzt sprach ein junger Mann mit amerikanischem Akzent, im Jahre 2011 zur besten Sendezeit über Robert und seine Bands in der BBC. Und er spielte die alten Lieder. Robert schaute aus dem Fenster in den grauen Londoner Morgen, lächelte ein wenig und dachte an die vergangenen zwanzig Jahre. An kleine, engen Tourbusse, Seven Inch Singles auf japanischen Labels und Festivals in Südamerika. Dann sagte der junge Mann im Radio, nun folge ein Lied seiner eigenen Band, The Drums, und das Robert sein größtes Vorbild sei. The Drums. Komischer Name für eine Band, dachte Robert und schaltete nach der Hälfte des Songs das Radio ab. Er nahm den letzen Schluck aus seiner Tasse. Der Tee war kalt geworden.

Martha Wainwright – Come To Mama

Zieht die Vorhänge zu. Löscht die elektrischen Lichter. Kauft Unmengen an gutem, schwerem Rotwein. Starke, vielleicht französische Zigaretten. Und Pralinen. Schachtelweise. Dann zündet Kerzen an im Luster. Die vermaledeite Sonne bleibt ohnehin bis nächstes Jahr unter dem Horizont. Und Regnen tut’s am besten gegen geschlossene Fenster. Vergesst was war und was sein müsste. Und dann legt eine Platte auf. Eine bestimmte: “Come Home To Mama“ von Martha Wainwright. Wunderbarste Töne werden eure Räume erfüllen und es wird warm werden. Feiert mit diesen Liedern eine Messe gegen die Eintönigkeit und Dürre unserer Tage! Sperrt das Grauen, die Welt einfach aus! Ein paar Platendurchläufe lang. Seid ihr allein, so kostet den süßen Nektar der Melancholie. Seid ihr in Gesellschaft, so liebt euch ohne Unterlass! Denn, eines ist doch sicher: Draußen werden die Monate im Nebel vorbei ziehen. Auf den Straßen und Plätzen, in den Bars und Spelunken wird nichts passieren. Nichts, für das es sich lohnen würde die Vorhänge zu heben, oder einen Kuss zu unterbrechen. Geschweige denn diese Platte anzuhalten.

 

The XX – Coexist

Ständig wird man von einer Mittelmäßigkeit zur nächsten geschubst. Wiedergekäutes wird einem von abgestumpften Marktschreiern als Revolution verscherbelt. Im gleichgeschalteten Grundrauschen merkt man gar nichts mehr. Hangelt sich halt so durch die Nacht und weiß eigentlich: alles ist schon einmal mindestens genauso passiert. Und der Regen fällt hart auf Porto. Ende Juni. Doch, plötzlich frieren wir wohlig fest im Matsch. Auf der Bühne, ein kühles Prinzenpaar. Sie flüstert leise und er spielt den Bass. Von hinten schleichen Beats. Dann, seine Antwort. Und von ihren Händen fließen Noten in den Wind. Wir vergessen unsere Gläser. Das ist die perfekte Leerstelle im Jahrmarkt. Endlich will uns einmal niemand etwas verkaufen. Die Gläser fallen uns aus der Hand. Wir sind allein. Wunderschön. Die Rotweinflecken auf meinem Hemd sind zwei Monate später längst verblasst, aber die neuen Songs von The XX und diese Nacht hallen immer noch nach. Werden mich in den Winter begleiten. Und jetzt ist da fast so etwas wie Hoffnung. Diese Platte wird ein Klassiker. Sonst höre ich nie mehr Musik. Ehrlich.

 

My Morning Jacket

Ich trat aus der sengenden Mittagssonne in einen Bretterverschlag, an den von Außen mit grüner Farbe das Wort „Bar“ geschmiert worden war. Meine Augen mussten sich erst langsam an die Dunkelheit gewöhnen. Ich hatte einen halben Tag totzuschlagen und vor dem Busbahnhof war es unerträglich heiß. Also hatte ich beschlossen, mich kurz zu erfrischen. Kaum das ich in der Lage war schemenhafte Umrisse wahrzunehmen, bemerkte ich Ihn. Er saß ganz Außen rechts an der Theke. Vor ihm ein fast leeres Getränk. Erst dachte ich, ich täusche mich. Aber er winkte mich wirklich zu sich heran. Sonst war in dem niedrigen, verrauchten Raum weit und breit niemand zu sehen. Er deutete mit dem Kopf auf den Sessel neben sich. Ich ging hin. Was hätte ich sonst tun sollen. Kaum hatte ich mich gesetzt, stand auch schon ein Glas vor mir. In dem Moment, als ich es an meine Lippen hob, bemerkte ich ein Summen. Eine sehnsüchtige, flirrende Melodie, die sich langsam zu Gesang steigerte. Bald erfüllte sie den ganzen Raum. Ich setzte mein Glas ab und sah den Fremden an. Er starrte mit unbeweglichen Pupillen zurück und sang einfach weiter. Da sah ich, dass etwas von seinem Sessel auf den Boden tropfte. Auch sein Hemd war von einer dunklen Flüssigkeit durchtränkt. Ich erstarrte. Mir wurde klar, was das war. Blut. Der Mann starb gerade. Doch er, er lächelte nur: “Merke dir diese Melodien. Sie werden dich dein Leben lang begleiten.“  Ich verschluckte mich fast und flüsterte: “ Was sind das für Melodien ?“  Er lachte heiser: “Geschrieben haben sie ein paar Männer, die sich “My Morning Jacket“ nennen, aber ab Heute gehören sie Dir, Mir, Uns allen!“  Dann fiel er still zu Boden.

 

Til Brönner

Die Reflexion der ersten Sonnenstrahlen auf meinem italienischen Glastisch blenden mich, während ich aus meinem Panorama Fenster über die Dachterasse dem Morgen entgegen blicke. Ein letzter Eiswürfel in meinem Glas mit dem Rest Hennessy XO klirrt leise im Rhythmus zu Till Brönners Trompete aus meiner Bose Anlage. Er spielt David Bowies “Space Oddity”. Sie ist gerade gegangen. Ich rieche noch ihr etwas zu preiswertes Parfum, streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht nach hinten und verklebe sie wieder mit den restlichen Haaren. Dann zünde ich mir einen Zigarillo an, schliesse die Augen und erinnere mich. Das japanische Restaurant. Etwas steif, aber recht angesagt im Moment. Die lange, kühl beleuchtete Bar. Sie trinkt Cosmos, ich Singapore Slings. Blöde Angewohnheit. Die Fahrt nachhause im offen Wagen. Eigentlich war ich zu betrunken. Who cares. Der Concierge, der Ihr die Tür aufhält und dann den Alfa in der Tiefgarage parkt. Ihre vor Erstaunen, ob der schieren Größe meines Appartements, leicht geweiteten Augen. Schliesslich, durch die amerikanische Küche, den Flur und meinen Ankleideraum ins Schlafzimmer. Sie streift ihr kurzes, schwarzes Kleid ab und lässt sich auf mein rundes Bett fallen. Not bad, I´d say. Anschliessend noch einen Abschieds Drink im Morgenmantel. Und sie geht. In zwei Stunden öffnet Frankfurt. Heute wird ein guter Tag. Das Telefon. Vielleicht ist es New York? Eigentlich schon zu spät für Die. Aber, who knows? Ich öffne die Augen wieder – Die Morgensonne über Kreuzberg strahlt durch das schmutzige Fenster auf mich und mein speckig braunes Sofa im ersten Stock. Till Brönner spielt noch immer leise, jetzt einen Song von Human League. Am Telefon ist Neukölln. Ob ich noch auf die Afterhour komme. Heute wird wirklich ein guter Tag.